„Denn man weiß ja nicht, was sie erlebt haben..“
Hunde aus dem Tierschutz tragen oft den Stempel, traumatisiert und schwer vermittelbar zu sein. Wenn einmal vermittelt, werden viele Probleme automatisch auf ihre Geschichte zurückgeführt. Diese Mythen halten sich hartnäckig und schrecken viele potenzielle Adoptant:innen ab. Doch wie viel Wahrheit steckt tatsächlich dahinter? In diesem Artikel wollen wir uns mit den verschiedenen Realitäten von Hunden aus dem (Auslands-)Tierschutz auseinandersetzen und aufklären.
Herkunft und Hintergrund
Hunde gelangen aus unterschiedlichsten Gründen in den Tierschutz: Verlust des Besitzers, ungewollte Würfe, veränderte Lebensumstände der Vorbesitzerin oder auch Misshandlungen. Im Ausland gibt es durch mangelnde Kastrationen ein großes Reproduktionsproblem. Hunde leben oft in mehr oder weniger starken Verbindungen zu Haushalten, dienen in ihrer Funktion als Hauswächter. Durch fehlende Zäune und die Tatsache meist unkastriert zu sein, verpaaren sie sich am laufenden Band.
Nur mal so als Richtwert: ein unkastrierter Hund kann mit seinen Nachkommen in 6 Jahren bis zu 67.000 Nachkommen erzeugen. Die wenigsten Menschen vor Ort nehmen sich diesen Nachkommen an – sie werden entweder sich selbst überlassen, verwildern oder/und sterben oder sie haben Glück und werden von liebevollen Tierschützer:innen gefunden.
Sie alle haben zwei Dinge gemeinsam: Pech und einen den fetten Stempel des ach so traumatisierten Tierschutzhundes.
Die Perspektive einer Hundetrainerin
Ich leite seit über 12 Jahren eine Hundeschule. Wie so oft im Leben, holen sich Menschen erst Hilfe, wenn es ein Problem gibt (ich nehme mich da selbst gar nicht aus). Aus meiner langjährigen Beobachtung und vielen tausend Hunden im Training, kann ich klar sagen, dass Second-Hand-Hunde, also Tiere mit Vorvergangenheit, nicht öfter im Training erscheinen als jene vom Züchter oder der Züchterin.
Menschen haben immer noch in ihren Köpfen, dass sie mit dem Welpen aus der Zucht ja von Anfang an alles richtig machen können – tun sie aber nicht. Sie haben immer noch in ihren Köpfen, dass sie keine schlimme Geschichte haben – haben sie aber auf ihre Art aber leider oft genauso. Sie können aus einer unseriösen Zucht kommen, und dabei meine ich gar nicht irgendwelche Vermehrerbetriebe aus dem Ausland, sondern Züchter:innen, die ihre Aufgabe nicht ernst nehmen und die jungen Tiere viel zu wenig auf ihr Leben vorbereiten.
Man soll gar nicht glauben, wieviele Welpen aus einer idyllischen Zucht kommen und mitten in die Stadt vermittelt werden und vom Leben absolut überfordert sind. Nie ein Haushaltsgeräusch, Kind oder Straßenlärm kennengelernt haben. Hauptsache die Farbe passt und sie haaren nicht…
Ebenso gibt es Hunde aus „vorbildlichen“ Zuchten, die dann in ihrem neuen Zuhause in Welpengruppen überfordert werden, unfreiwillige Hundekontakt aushalten müssen, 7 Monate machen dürfen was sie wollen und am Ende aus Unsicherheit, Frust oder sozialer Motivation eine satte Leinenaggression entwickeln, die man ja eigentlich niemals haben wollte..
Ich möchte hier aber nicht in Whataboutism verfallen, sondern vorerst von einigen positiven Beispielen erzählen, die diesen Mythos in ein anderes Licht rücken.
Positivbeispiele
Meine Hündin „Semmerl“
Fangen wir bei meiner eigenen Hündin „Semmerl“ an. Sie kam vor rund 8 Jahren, mit etwa 10 Monaten, aus Griechenland zu mir. Ich hatte mein Leben lang immer nur Hunde aus dem Tierschutz, war damals aber zugegeben noch nicht so sehr im Thema, wie ich es heute, durch die vielen Auslandseinsätze bin. Ich hatte damals noch Abbey, eine betagte Ridgebackhündin, die ich ebenfalls im Alter von 7 Jahren aus einem slowakischen Tierheim adoptiert hatte. Ja, im Tierschutz sind auch viele Rassehunde zu finden, aber mehr dazu später.
Semmerl sollte nur übergangsweise bei mir bleiben, weil ihre Pflegestelle erst später Zeit hatte. Also hab ich sie erstmal zu mir genommen und direkt in mein Leben integriert. Aus heutiger Sicht wahrscheinlich ein wenig blauäugig, aber so war das nun mal. Letztlich hat sie mich ja auch mit ihrer Coolness überzeugt, sie dann doch zu behalten. Semmerl war jedenfalls an Tag 3 mit mir im Einkaufszentrum, ist mit mir in den Badeurlaub gefahren, hat Menschen und Hunde kennengelernt. Sie hat jede Autofahrt, das Tragen von Brustgeschirr und Leine, jede neue Umgebung, als ehemaliger Straßenhund, der die ersten 6 Monate draußen verbracht hat, sensationell gemeistert. Das Wichtigste für sie war einfach bei mir zu sein, ein Streben nach Bindung, das jeder Hund in sich trägt.
Lilia
Ein weiteres Beispiel ist Lilia, eine Amstaff-Mischlingshündin aus Rumänien. Meine Kollegin Ellen und ich haben sie vor ein paar Jahren aus einer Animal Hording Situation gerettet, sie lebte monatelang isoliert von allen Hunden in einer kalten Pferdebox, ohne einen einzigen Strohhalm auf dem Boden.
Sie hat vom Leben nicht viel kennengelernt, hatte nichts, außer eine unbändige Liebe zu Menschen. Ellen und ich haben sie von dem Hof in ein naheliegendes Tierheim gebracht, um sie von dort aus weiterzuvermitteln. Sie kam in einen Zwinger, der sicherheitshalber auch ein Dachgitter hatte. Sie hat es mit aller Gewalt geschafft dort auszubrechen und stand nach einer Stunde dem Tierheimdach, um wieder zu uns zu laufen. Sie wollte nicht weglaufen, sie wollte nur zu Menschen.
Ich schreibe das, weil der Mythos, dass man viele Hunde doch einfach auf der Straße oder sich selbst überlassen sollte, einfach nicht der Wahrheit entspricht. Es gibt zwar einige Hunde, die so verwildert sind, dass eine Integration in unser Leben nur sehr bedingt möglich ist, es gibt aber auch abertausende Hunde da draußen, die genau das suchen, was ihnen in ihrer DNA hinterlegt ist – mit Menschen zu leben!
Der Haushund ist mit seiner heutigen Genetik nur entstanden, weil es Menschen gab. Die zahmsten Wölfe waren neugierig, sich den Menschen angenähert und bald darauf voneinander profitiert, auf der Jagd, als Wachposten und um sich gegenseitig Sicherheit, Nähe und Wärme zu geben. Die DNA wurde neu programmiert und ließ vor rund 15.000 Jahren den Hund und diese unvergleichliche Verbindung zwischen zwei Artfremden(!) entstehen.
Heute wiederum haben wir viele Fälle schutzloser Hunde, die mehr oder weniger auch der Mensch entstehen hat lassen. Deswegen sind wir diesen tollen Tieren meiner Meinung nach auch schuldig, ihnen zu helfen.
Lilia lebt mittlerweile übrigens glücklich in einer tollen kleinen Familie, hat enorme Trainingsfortschritte gemacht und ist besser erzogen als die meisten Hunde da draußen. Da ich ihre Geschichte von Anfang an begleiten durfte, ist übrigens auch Protagonistin meines Online-Kurses „ein Tierschutzhund zieht ein“.
Lito
Ein ganz aktueller Fall ist Lito – ein junger Dobermann, den meine Trainerkollegin Dolores in einem Shelter in der Nähe von Bukarest kennengelernt hat. Er sollte in die Zucht gehen, als sein Halter sich nach einem gescheiterten Transport nach Skandinavien sich einfach nicht mehr um ihn gekümmert hat. Er ist schließlich als Pflegehund zu Dolores und ihrer Frau nach Osnabrück gekommen und hat sich direkt in ihr bestehendes Rudel integriert, als wäre er schon immer da gewesen. Ist cool mit der Welt, herzallerliebst mit Menschen und einfach wiedermal ein Rassehund, der im Tierheim gelandet ist. Ja, auch die gibt es zuhauf, in allen Varianten. Man muss sie nur suchen.
Die Rolle der Tierschutzorganisationen
Tierschutzorganisationen spielen eine entscheidende Rolle in meinem Plädoyer für Tierschutzhunde. Zuallererst ist ihre Seriosität die Voraussetzung, überhaupt mit ihnen zu arbeiten. Welche Kriterien einen Tierschutzverein seriös machen, findest du hier.
Dazu ist es ein sehr schmaler Grat, auf die Not und Bedürfnisse der Hunde aufmerksam zu machen, ohne die Situation zu vermenschlichen und am Ende nicht ausreichend über mögliche Themen und Probleme aufzuklären.
Ich möchte hier ganz klar relativieren, dass nicht jeder Hund aus dem Tierschutz nur nach Liebe und einem vollen Napf sucht und sich sofort ins Leben integriert, als hätte er nie etwas anderes erlebt. Fakt ist nämlich, dass Themen die es geben kann, zu allermeist darauf basieren, dass Hunde Vieles nicht schlecht, sondern eben gar nicht kennengelernt haben.
Der Mythos „immer von Männern geschlagen worden sein“ etc. ist also meist falsch. Manche Hunde haben schlicht zu wenige Menschen kennengelernt und damit in einer wichtigen Phase die Chance verpasst, zu generalisieren. Also müssen sie jeden Menschen neu bewerten und erst lernen, dass die meisten absolut OK sind. Das ist möglich, braucht aber Zeit. Männer sind da übrigens oft noch furchterregender, weil sie einfach meist größer sind, in ihrer Körpersprache grober und eine dunkle Stimme haben.
Übrigens ist es auch ein Welpe nicht automatisch ein „unbeschriebenes Blatt“. Studien zeigen, dass die Epigenetik eine große Rolle spielt und Erfahrungen der Vorgenerationen sich maßgeblich auf das Verhalten der Nachkommen auswirken. Deswegen sollte auch bei der Wahl auf den Welpen nicht nur Optik, sondern auch Wesen hinterfragt werden – egal woher dieser kommt.
Gerade im Tierschutz, wo das Helfen und Retten vermeintlich im Vordergrund steht, braucht es also vorab erfahrene Vereine, die vor der Adoption ausreichend aufklären und Informationsaustausch, der vielleicht manchmal übertrieben wirken mag. All das braucht es aber, um wirklich zu helfen und für alle Beteiligten ein Happy End zu schaffen.
Fazit
Der Mythos, dass Hunde aus dem Tierschutz immer traumatisiert sind, entspricht nicht der Realität. Viele Hunde sind bestens sozialisiert, lieben Menschen und Artgenossen und sehnen sich einfach nur nach einer festen Bindung zum Menschen. Sich darauf automatisch zu verlassen wäre ein Fehler, genauso wie es ein Fehler wäre sich leichtfertig für einen Welpen aus der Zucht zu entscheiden. Bei jeder Hundeanschaffung braucht es sehr viel Aufklärung und eine gute Portion Realismus – etwas, das seriöse Tierschutzvereine auch auf Augenhöhe bieten sollten!
Es liegt an uns allen, Missverständnisse über den Tierschutz zu beseitigen, aufzuklären wo es geht und wunderbaren Hunden eine verdiente Chance zu geben.
Du hast einen Hund aus dem Tierschutz und tolle Erfahrungen gemacht? Teile ihn jetzt in deiner Instagram-Story, nutze den Hashtag #meintierschutzhund und tagge deinen Verein und @_hunderunde_ um zu zeigen, dass Hunde aus dem Tierschutz unkomplizierte Begleiter ohne Traumata sein können!
Über die Autorin:
Nach ihrem Hundetrainerstudium bei Martin Rütter in Bonn leitet Conny Sporrer seit 2013 ihre eigene Hundeschule in Wien, ist Fachautorin, TV-Hundetrainerin, Referentin in der Hundetrainerausbildung bei Martin Rütter, Gründerin ihrer eigenen Online Hundeschule, erfolgreiche Podcasterin, YouTuberin und vor allem stolze Schirmherrin des Tierschutzvereins „Pfotenherz – Tierschutz mit Verstand e.V.“.
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